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Die verlassenen Kinder in Rumänien

Die Zahl der Kinder in Heimen hatte sich Mitte der 1990er Jahre gemessen am Ende der Ceausescu-Diktatur 1989 verdoppelt. Nur in Lettland und in der Ukraine war die Zahl der verlassenen Kinder noch höher. Die alte Moral – wenn ich für mein Kind nicht mehr aufkommen kann, muss es der Staat tun – und die neue wirtschaftliche Not kamen zusammen. Allein im Distrikt Bihor mit 600.000 Einwohnern  wurden bis in die 2000er Jahre monatlich zehn bis 15 Neugeborene von ihren Müttern verlassen. Heute besteht dieser Zustand immer noch, wenn auch zahlenmäßig deutlich verringert. Die meisten Kinder werden in der Entbindungsklinik zurückgelassen. Auch im Westen wäre jedes öffentliche Hilfesystem damit überfordert. Die Folgen waren: überfüllte Heime mit inhumanen Bedingungen, keine Förderung, keine Schulausbildung und keine beruflichen Perspektiven.

Ab den 2000er Jahren hat sich zumindest in unserer Zielregion Bihor die Situation verändert. Die Europäische Union hat Ende der 1990er Jahre im Rahmen der Beitrittsverhandlungen von Rumänien nicht nur wirtschaftliche Reformen und den Kampf gegen die Korruption verlangt, sondern auch eine nachhaltige Veränderung bezüglich der Kinderheime. Die Rumänienhilfe Alsterdorf hat in diesem Zusammenhang 1988 mit anderen nicht-staatlichen Organisationen zusammen das Programm „Kinderhäuser statt Kinderheime“ gestartet.

Kinder mit und ohne Behinderungen, die bisher in Heimen untergebracht waren, sollten in gemeindeintegrierten Häusern unter normalen Bedingungen leben. Hauseltern sollten die Erziehung übernehmen, unterstützt von weiterem pädagogischen Personal.

Mit der Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung, der großzügigen Unterstützung einiger Kirchengemeinden und vielen einzelnen Spenderinnen und Spendern ist es uns Anfang der 2000er Jahre gelungen, in Oradea und im Ort Sacueni – 45 Kilometer nördlich von Oradea – vier Häuser für Kinder und Jugendliche zu erwerben und einzurichten, die damit endlich aus den Heimen herauskamen.

Andere westliche, später auch rumänische Hilfsorganisationen taten Ähnliches. In der Region Bihor entstand ein Netz von über 30 Kinderhäusern, rumänisch „Casas de tip familial“, deutsch „Familienhäuser“. Etwa 40 Prozent der ehemaligen Heimkinder leben heute in Bihor in diesen Kinder- und Jugendhäusern, weitere 30 Prozent sind in Pflegefamilien vermittelt, so dass tatsächlich nur noch ein kleinerer Teil der verlassenen Kinder – es sind meist die behinderten Kinder –  in Kinderheimen lebt. Der Distrikt Bihor steht damit allerdings fast allein. Nur in wenigen anderen westrumänischen Distrikten gibt es vergleichbare Entwicklungen. In weiten Teilen des Landes herrscht nach wie vor das System geschlossener Heime und Langzeitpsychiatrien auch für Kinder und Jugendliche vor.